"Es liegt an uns,
den Schienenverkehr neu zu denken"
Zukunftsbündnis Schiene präsentiert und
diskutiert erste Ergebnisse
Der Schienenverkehr in
Deutschland steht vor gewaltigen Herausforderungen. Einerseits
wird ein steigendes Fahrgast- und Frachtaufkommen angestrebt,
andererseits müssen die Rahmenbedingungen hierzu v.a. mit einem
leistungsfähigen Schienennetz und entsprechendem
Fahrzeugmaterial erfüllt werden. Hierzu wurde das Zukunftsbündnis Schiene ins Leben
gerufen. Am 7. Mai 2019 berichtete Enak Ferlemann,
parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur, in seiner Eigenschaft als
Vorsitzender dieses Lenkungskreises über erste Ergebnisse.
Als weitere
Redner konnten Andreas Scheuer
(Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur)
sowie Dr. Richard Lutz (Vorstandsvorsitzender
Deutsche Bahn AG) gewonnen werden. Im Anschluss an diese
Beiträge fand eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion
zur Umsetzung der Ergebnisse des Zukunftsbündnisses Schiene
statt.
In seiner
Rede hob Andreas Scheuer die Vorteile
des Bahnreisens heraus: Für ihn sei es
entspanntes Reisen, die Möglichkeit
zum Arbeiten ist gegeben und („meist
jedenfalls“) ist es auch
komfortabel. Allerdings spielte er
auch auf die Problematik an, die
Bahnfahren „anstrengend macht“:
Ggf. ist schon der erste Zug
verspätet, es kommt zum Gleiswechsel,
der Anschlusszug fährt vor der Nase
weg. Ohne Zweifel Aspekte, die im
Bahnbetrieb regelmäßig zu beobachten
sind. Bis zum Herbst in diesem Jahr
erwartet er von Seiten der Deutschen
Bahn die Vorlage eines Konzeptes zur
Umsetzung des anvisierten
Deutschland-Taktes.
Dr.
Lutz sieht die Deutsche Bahn auf einem
guten Weg. Schritt für Schritt werden
die Pünktlichkeitswerte erhöht. Das
momentane Ziel von 76,5% konnte mit
78,5% übertroffen werden. Es sei jedoch
anzumerken, dass für ein als
Mobilitätsdienstleister Nr. 1
auftretendes Unternehmen ein Zielwert
von 76,5% bei weitem nicht der Anspruch
sein kann. „Es bleibt ein Kampf um
jede Minute“ so Lutz. Im Rahmen
der Agenda für eine bessere Bahn
investiert die DB soviel wie nie: vor
allem ist dabei geeignetes Personal
gefordert – auch im Kontext auf die
aktuelle und sicher weiter bestehende
Klimadiskussion sieht sich die Bahn hier
als attraktiver und zeitgemäßer
Arbeitgeber. Als Bonbon brachte Richard
Lutz noch die Ankündigung mit, die
ICE-Zugfrequenz auf der stark
nachgefragten Verbindung zwischen
Hamburg und Berlin ab dem
Fahrplanwechsel im Dezember 2021 auf
einen Halbstundentakt zu verdichten.
Enak
Ferlemann analysierte in seinem Beitrag
den Status Quo im 25. Jahr der
Bahnreform. Problem aus seiner Sicht ist
eine Fragmentierung: „Es werde viel
übereinander, aber nicht miteinander
gesprochen.“ Gleichwohl spürt er
eine Aufbruchstimmung in der Branche.
Zudem stellte er den im vergangenen Jahr
geschlossenen Koalitionsvertrag als „so
schienenfreundlich wie nie“ dar.
Ferlemann berichtete, dass der zweite
Entwurf zum Deutschlandtakt fertig sei
und welch Herausforderungen in diesem
Zusammenhang bestehen: „Es geht nicht
nur um den Fernverkehr, auch Nah- und
Güterverkehr müssen Berücksichtigung
finden.“ Er geht davon aus, dass
die fortschreitende Digitalisierung des
Netzes Kapazitätssteigerungen von 10 bis
15 Prozent möglich machen wird.
In der anschließenden
Podiumsdiskussion wurde über die Umsetzung der
Ergebnisse des Zukunftsbündnisses Schiene
debattiert. Unter Moderation von Susanne
Landwehr (Fachjournalistin Deutsche
Verkehrs-Zeitung) tauschten sich Susanne
Henckel (BAG-SPNV e.V.), Dirk Flege
(Allianz pro Schiene e.V.), Oliver Wolff
(Verband deutscher Verkehrsunternehmen e.V.),
Dr. Ben Möbius (Verband der
Bahnindustrie e.V.) und Dr. Philipp Nagl
(DB Fernverkehr AG) aus: Jede Maßnahme steht
und fällt mit ihrer Finanzierung. Daher
kreisten die Beiträge rund um den
Infrastrukturausbau natürlich um die
Haushaltsfrage. Zudem wurde gefordert, dass
die beschlossenen Vorhaben aus dem
Bundesverkehrswegeplan (BVWP) schneller
umgesetzt werden.
Bezüglich des Zeitplans merkt Herr Dr. Nagl
an, dass nicht nur auf ein fernes Ziel
hingearbeitet wird, sondern Teile des
Deutschland-Taktes bereits aktiv sind (Knoten
Erfurt) bzw weiterhin sukzessive eingeführt
werden. Zu berücksichtigen sind dabei
Rahmenbedingungen wie z.B.
Ausschreibungszeiträume für den Nahverkehr,
aber auch die Verfügbarkeit von ETCS. Susanne
Henckel äußerte im Zusammenhang mit der Frage,
wo die Teilnehmer der Diskussionsrunde den
Schienenverkehr in 10 Jahren sehen, den
Impuls, sich auch im Nahverkehr Gedanken zu
einer möglichen Auslastungssteuerung zu
machen.
Ausgewählte Zitate
dieses Abends:
„Ein
positives Angebot schafft eine positive Nachfrage.“
(Andreas Scheuer)
„Es
braucht eine gemeinsame Kraftanstrengung der Politik und
der Wirtschaft.“
(Dr. Richard Lutz)
„Wer
auf dem Sektor Schiene arbeitet, ist auf der Seite der
Guten.“ (Enak
Ferlemann) „Wir sind sehr daran
interessiert, dass uns Bürgerinnen und Bürger positive
Rückmeldungen geben.“
(Andreas Scheuer) „Alle an einen Tisch!“
(Enak Ferlemann) „Wir brauchen Menschen,
die dieses System betreiben.“
(Andreas Scheuer) „Die Infrastruktur ist der
entscheidende Hebel für Pünktlichkeit und Qualität.“
(Dr. Richard Lutz) „Es macht Spaß, für den
Verkehrsträger Schiene zu arbeiten.“
(Enak Ferlemann)
„Ich
freue mich über jeden neuen Fahrgast, den wir fahren dürfen.“
(Dr. Philipp Nagl, links)
Fazit des Autors:
Die Darstellungen zur
Zielausrichtung 2030 sind vielversprechend. Bevor jedoch
Expansionen und teils Visionen auf deutschen Schienen
vollumfänglich finanziert sowie im Anschluss umgesetzt sind,
erwartet der Kunde schon jetzt Verlässlichkeit in Bezug
auf das aktuelle Angebot. Andreas Scheuer sprach zum Entstehen
des negativen Images der Bahn und nannte Ursachen. Daher konkret
im Kontext auf die heutige Veranstaltung:
Auch nach dem Jahr
2030 muss die Qualität kontinuierlich hinterfragt und
mit ausreichender Finanzierung ggf. angepasst werden.
Was kann heute schon
verändert werden?
Hierzu folgende
Aspekte:
Das Angebotsplanung muss
dem tatsächlich zur Verfügung stehenden Fahrzeugpool
entsprechen. Entscheidet sich der Kunde für eine
ICE-Fahrkarte, erwartet er am Reisetag am Gleis einen
ICE. Jeder eingesetzte Ersatzzug ist „besser als
nichts“, erzeugt beim Kunden jedoch Enttäuschung: Die
Sitzplatzreservierung ist hinfällig, der Ersatzzug hat
teils eine geringere Wagenanzahl und somit weniger
Sitzkapazität, es ist kein WLAN vorhanden, oft fehlt
ein Bistro. Mit allen Mitteln und sei es mit der
Reaktivierung bereits ausrangierten Materials oder
Anmietung von Fremdfahrzeugen muss verhindert werden,
dass enttäuschte Fahrgäste wegen eines überfüllten
Zuges am Bahnsteig zurückbleiben, gar aus einem
überfüllten Zug herausgebeten werden oder dass ein
Fernzug komplett ohne Ersatz ausfällt. Jeder einzelne
Ausfall erzeugt eine hundertfache Enttäuschung mit
entsprechender Flächenwirkung und bleibt bei jedem
Kunden negativ haften.
Der Fahrplan muss verlässlich
sein. Ein Beispiel aus der vergangenen Woche (eine
Fahrgastreaktion via Twitter): Erhält ein Kunde für
eine Reise von Frankfurt(Main) nach Stralsund eine
Reiseauskunft (und Fahrkarte) mit Ankunft zum
Umsteigen in Hamburg Hbf um 09:35 und Erreichen des
Anschluss-ICE um 09:43, kann es nicht sein, dass nach
dem Fahrkartenverkauf der Fahrplan im System
noch geändert wird. Die neue Ankunft zum Umsteigen in
Hamburg Hbf liegt in diesem Beispiel 31 Minuten später
um 10:06 Uhr und die Reisekette ist somit zerstört.
In der Konsequenz beeinflusst der Zug nach Hamburg die
Verspätungsstatistik nicht negativ, er zählt als
pünktlich – beim Fahrgast bleibt dieser Effekt jedoch
sicher negativ in Erinnerung.
Bei
Unregelmäßigkeiten zuverlässige
Informationen geben. Eine weitere
Fahrgastreaktion via Twitter aus der vergangenen
Woche: „Wir stehen mit dem IC xxx kurz hinter
Osnabrück … Schaffe ich es zu meinem Termin?
Nichts geht, es ist sauwarm, keiner weiß was.“
Jeder Kunde hat in welcher Form auch immer einen
Folgetermin, möchte zuhause ankommen, wird am
Zielbahnhof erwartet. Sobald es hakt, muss neben der
Störungsbehebung die Kundeninformation authentisch
und zuverlässig erfolgen. Warum genau geht es nicht
weiter? Was ist am Zug/an der Strecke/im Stellwerk
defekt? Welche Ersatzmaßnahme wurde schon
angestoßen? Wann rechnen wir als Bahn mit der
Weiterfahrt bzw. warum können wir zum aktuellen
Zeitpunkt noch keine Prognose zur Weiterfahrt
treffen? Dabei geht es nicht darum, den Kunden zum
Eisenbahner umzugewöhnen und mit internen
Fachzusammenhängen zu arbeiten. Jeder Umstand lässt
sich jedoch kundengerecht darstellen, so dass der
Fahrgast ein gutes Gefühl bekommt. Er versteht das
Problem und zeigt Verständnis. Das funktioniert
nicht bei der Verwendung von Floskeln oder
Verallgemeinerungen wie „Verzögerungen im
Betriebsablauf“. Selbst wenn es mal ein allzu
menschlicher Grund als Verspätungsursache ist:
Aufrichtig erklären („Bei uns ist heute in der
Personalplanung eine kleine Panne passiert.“) und
somit versuchen, die Stimmung ins Positive zu
leiten. Und sofern jemand detaillierte Informationen
über Ansagen hinaus wünscht: Geben Sie diese
Information: („Unsere Lokomotive wird neu
hochgefahren und einige Minuten lang wird die Bremse
getestet.“, „Unser Lokführer erhält soeben via Funk
einen neuen Fahrplan diktiert“, „Im Stellwerk ist
die Schautafel für die Gleise ausgefallen“ usw.) Ihre Kunden werden es Ihnen
danken.
Im Ergebnis: Die
gewünschte Imageverbesserung kann einzig durch
Kundenbegeisterung erzielt werden. Die Chance dazu und den
Startimpuls haben Bahn und Entscheider im BMVI: jetzt und
jederzeit.
Abschluss
Im Rahmen des
Ausklangs fand sich der Autor neben Enak Ferlemann wieder:
„Sie möchten was von mir?!"
(=freundlich von ihm gesprochen).
„Ja. Herr Ferlemann, wird es in zehn
Jahren eine unwiderstehliche Bahn
geben, halten Sie das für möglich?“
Seine Antwort: „Ja, wir unterstützen
das! Wir ziehen da mit und wir haben die Geduld.“
Diese Worte
bleiben im Hinterkopf. Möge zwischen der Deutschen Bahn und
dem BMVI ein fortwährender vertrauensvoller Austausch und eine
zielführende Zusammenarbeit stattfinden.
Weiterführende
Informationen zum Deutschland-Takt incl zahlreicher Anlagen
(u.a. Netzgrafiken) können über
diesen externen Link (BMVI) abgerufen werden.
Abschließend
herzlichen Dank an das BMVI für das Ermöglichen
zur Teilnahme an der Veranstaltung.
Text und Fotos: Marcus
Grahnert
Berlin, 7. Mai 2019